Erinnerungskultur der Gesellschaft der Ärzte in Wien
Beatrix Volc-Platzer und Hermann Zeitlhofer
Seit der Gründung der Gesellschaft der Ärzte in Wien am 22. Dezember 1837 sind mittlerweile über 185 Jahre vergangen. Die Ereignisse der vergangenen zwei Jahrhunderte sind an unserer fachübergreifenden, medizinischen Fachgesellschaft nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat die Märzrevolution 1848 überstanden, sie bot den Rahmen für die Präsentation der „Highlights“ der sich in Wien rasant entwickelnden naturwissenschaftlichen Medizin und sie war das wichtigste Diskussionsforum der zweiten Wiener medizinischen Schule. Die Gesellschaft der Ärzte erlebte aber auch die Auswirkungen des akademischen Antisemitismus im Rahmen des zunehmenden Nationalismus im 19. Jahrhundert mit all seinen Folgen bis 1938, und in letzter Konsequenz die vorübergehende Auflösung und der Ersatz durch die nationalsozialistische Wiener Medizinische Gesellschaft.
Die laufende Dokumentation der eigenen Geschichte im zeitlichen Kontext der Entwicklung der Medizin ist ein integrales Element der Identität der Gesellschaft der Ärzte in Wien und die Basis des Erinnerns der Licht – und Schattenseiten im zeitgeschichtlichen Kontext.
Samuel Hajek verfasste als einer der beiden Bibliothekare der Gesellschaft in ihren frühen Jahren eine nahezu minutiöse Dokumentation der ersten 50 Jahre, von 1837 bis 1887. Diese ersten 50 Jahre könnte man auch als die „Wanderjahre“ der Gesellschaft bezeichnen, da die Versammlungen zunächst in Privatwohnungen und schließlich in der alten Universität stattfanden. Parallel dazu musste auch für den wachsenden Bücherbestand wiederholt ein neuer Aufbewahrungsort gefunden werden. Das Vereinsgebäude mit seinem Festsaal, den Bibliotheken und dem großen Archiv, das Billrothhaus, wurde erst vor 130 Jahren, am 27. Oktober 1893, eröffnet.
Isidor Fischer, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und habilitierter Medizinhistoriker, ergänzte Hajeks Werk wesentlich und setzte sie bis einschließlich 1937 fort. Im Zusammenhang mit den tragischen Entwicklungen 1938 wurde ihm die Facharztanerkennung und die venia legendi entzogen, er musste nach England fliehen und der „Dank“ für seine umfangreiche Arbeit wurde ihm nur mehr anonym im Vorwort des von ihm verfassten Buches abgestattet.
Abb. 1: Isidor Fischer (1868-1943)
Quelle: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Bildarchiv
Wir sind heute sehr dankbar für alle Details, die Isidor Fischer zur Vereinsgeschichte der ersten 100 Jahre, über die Funktionäre und die medizinischen Schwerpunkte zusammengetragen hat, darunter die Auflistung aller im Verein gehaltenen Vorträge bis zum „Anschluss“ 1938.
Als erster Historiker und Nichtmediziner arbeitete Karl Sablik anlässlich der 150-Jahr-Feier der Gesellschaft der Ärzte in Wien im Auftrag des damaligen Präsidenten Karl-Hermann Spitzy (1982 - 1991) die Vereinsgeschichte bis in die 1980er Jahre auf, die als eigenes Buch mit zahlreichen Abbildungen 1987 herausgegeben wurde. Die bisher letzte „Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien“ des Internisten Karl-Heinz Tragl, Präsident der Gesellschaft der Ärzte in Wien von 2007-2011, erschien 2011 als Buch im Böhlau Verlag und ist das bisher umfangreichste Nachschlagewerk zur Geschichte der Gesellschaft.
2022 wurde das Projekt „Die Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien: Die kritischen Jahre 1930 bis 1960“ in Kooperation mit Herwig Czech, Professor für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Universität Wien, und dem Josephinum (Leitung: Christiane Druml) initiiert. Als Basis für eine systematische medizinhistorische Bearbeitung stellte die Gesellschaft bisher unveröffentlichte Protokolle der regelmäßigen Sitzungen des Vorstands (Präsidium und Verwaltungssenat ab 1861), Mitgliederverzeichnisse sowie umfangreiche Korrespondenzen zur Verfügung. Nach Einwerben von Förderungen durch den Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus der Republik Österreich und durch den Zukunftsfonds der Republik und mit einer eigenständigen Kofinanzierung der Gesellschaft der Ärzte aus dem laufenden Budget konnten wir ab 2023 mit der Digitalisierung und systematischen Durchsicht der genannten Dokumente beginnen. Mit der Bearbeitung und Darstellung im Kontext der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde der Historiker und Mitarbeiter von Herwig Czech, Josef Hlade, beauftragt. Hlade wurde vom Historiker und Bibliothekar der Gesellschaft, Hermann Zeitlhofer, und zwei geringfügig beschäftigten StudentInnen tatkräftig unterstützt. Die umfangreichen Recherchen aller mit den Protagonisten der Gesellschaft der Ärzte in Wien in Verbindung stehenden zeithistorischen Dokumente und Biographien ließen komplexe Verflechtungen zwischen der Medizin - mit ihren prominenten, aber auch weniger bekannten VertreterInnen - und den verschiedenen politischen Strömungen und Entwicklungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erkennen. Diese Zusammenhänge objektiv darzustellen und daraus Erkenntnisse nicht nur für die Geschichtsforschung, sondern vor allem für die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, war Inhalt des Projekts „Die Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien: die kritischen Jahre 1930-1960“. Der zeitliche und finanzielle Rahmen der Förderung reichte von Jänner 2023 bis Oktober 2024. Die Ergebnisse wurden – mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten – bisher in drei Symposien präsentiert und werden für die Publikation vorbereitet:
„Die Gesellschaft der Ärzte in Wien: Blick auf eine wechselvolle Geschichte“ am 30.11.2022, (Gesellschaft der Ärzte in Wien, Billrothhaus, Gesellschaft der Ärzte);
„Die Wiener Medizin und der akademische Antisemitismus – 1848-1938“ am 11.10.2023 (Gesellschaft der Ärzte in Wien, Billrothhaus, Gesellschaft der Ärzte);
„Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien: Die kritischen Jahre von 1930 bis 1960 und die Folgen“ am 9.10.2024, (Gesellschaft der Ärzte in Wien, Billrothhaus, Gesellschaft der Ärzte).
Die Aufarbeitung der Ereignisse der kritischen Jahre 1930-1960 und deren Bedeutung für die Gesellschaft der Ärzte in Wien in Form eines strukturierten Projekts markiert die vorläufig letzte Phase der Erinnerungskultur dieses historisch bedeutsamen, fachübergreifenden medizinisch-wissenschaftlichen Vereins. Hermann Zeitlhofer schilderte anlässlich des Symposiums am 9. Oktober 2024 das Entstehen einer eigenen Erinnerungskultur der Gesellschaft der Ärzte in Wien in fünf Phasen (https://www.billrothhaus.at/index.php?option=com_billrothtv&void=6328):
Erste Phase: die unmittelbare Nachkriegszeit
Der 20. Juli 1945 markiert den Beginn der ersten Phase nach dem 2. Weltkrieg, zunächst mit individuellen Ansätzen. Nachdem die nationalsozialistische „Ersatzgesellschaft“, die Wiener Medizinische Gesellschaft, wieder verschwunden war, fand an diesem Tag eine erste administrative Sitzung im Billrothhaus statt. Zwei wichtige Beschlüsse wurden in dieser Sitzung gefasst. Eine Kommission bzw. ein erweiterter Verwaltungsrat sollte zur Prüfung von Wiederaufnahmen von Mitgliedschaften und Neuanträgen auf Mitgliedschaft in der NSDAP eingesetzt und ein entsprechender Fragebogen entworfen werden, gewissermaßen ein „selbstgestrickter“ Entnazifizierungsprozess. Darüber hinaus stellte der Dermatologe Leopold Arzt, der bereits vor 1938 die Funktion des zweiten Sekretärs in der GdÄ bekleidet hatte und bis 1938 Schriftleiter der Wiener klinischen Wochenschrift war, den Antrag, in Erinnerung an die verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft eine Trauersitzung für den Allerseelentag 1945 einzuberufen. Als Trauerredner hielt dabei der Gerichtsmediziner Fritz Reuter Nachrufe auf den verstorbenen letzten Präsidenten vor 1938, Anton Eiselsberg, und den Ehrenpräsidenten und Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg. Am 22. März 1946 gedachte Leopold Arzt selbst des vertriebenen jüdischen Ordinarius für Otologie Heinrich von Neumann, der 1939 im Exil in den USA verstorben und ein persönlicher Freund Arzts gewesen war. Bei dieser Veranstaltung wurde eine ergänzende Inschrift für die Opfer der Zeit 1938 bis 1945 an der bereits zuvor existierenden Marmortafel im Stiegenhaus, mit der den Opfern des Ersten Weltkrieges gedacht wurde, enthüllt.
Weitere Gedenkreden waren als Serie für die Jahreshauptversammlungen der Nachkriegszeit vorgesehen, wurden tatsächlich aber nur am 25. März 1949 mit dem Vortrag Viktor Frankls für die in den Jahren 1938 bis 1945 verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft fortgesetzt. Seine persönlichen Erinnerungen an sechs im KZ ermordeten Kollegen beendete Frankl mit einer Geste der Versöhnung: „So wollen wir denn nicht nur gedenken der Toten sondern auch verzeihen allen Lebenden ….“.
Gerade in den ersten Nachkriegsjahren setzte man symbolische Gesten mit der Wahl vertriebener ehemaliger Mitglieder zu korrespondierenden und vor allem zu Ehrenmitgliedern.
Abb. 2: Viktor Frankl
Quelle: Wikipedia
1946 wurde der Psychiater Max Schacherl als einstiger Vertriebener zum Ehrenmitglied und zum Funktionär der Gesellschaft gewählt. 1947 wird die Zahl der zu Ehrenmitgliedern ernannten vertriebenen ehemaligen Vereinsangehörigen um denInternisten, Endokrinologen und Konstitutionsforscher Julius Bauer, und um die Radiologen Arthur Schüller und Gottwald Schwarz (über England nach New York emigriert) erweitert. Vor allem Letzterer war mit zahlreichen Vorträgen immer sehr präsent in der GdÄ. Der Schlußsatz seiner im Archiv der GdÄ vorhandenen handschriftlichen Autobiographie lautete: „Es lebe die Wiener Ärztegesellschaft.“
Insgesamt 56 Personen wurden im selben Jahr zu korrespondierenden Mitgliedern ernannt. 41 davon waren vertriebene ehemalige Mitglieder, so auch die Dermatologin Marianne Bauer-Jokl, Ehefrau von Julius Bauer und sehr aktiv in der nationalen und internationalen Standespolitik der Ärztinnen. Das Jahr 1947 blieb eine Ausnahme, dann fiel die Zahl dieser symbolischen Ernennungen Vertriebener zu korrespondierenden oder Ehrenmitgliedern auf unter 10 pro Jahr ab, in 1950er Jahren und danach kam das überhaupt nur mehr in Einzelfällen vor.
Zweite Phase: ca. 1950 – frühe 1980er Jahre
Mit der zunehmenden Reintegration ehemaliger NS-Parteigänger in den klinisch-akademischen Alltag und damit auch in die GdÄ wird die erste Phase des Bemühens um ehemalige, verfolgte Mitglieder durch eine „Verdrängungskultur“ abgelöst. Eine vorläufig letzte Aktivität des Erinnerns stellt die Verleihung der Billrothmedaille an Viktor Frankl und sein zweiter Festvortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung 1980 dar. Hans Popper, Internist an der Klinik von Hans Eppinger, der 1938 von den Nationalsozialisten vertrieben worden war und sich eine zweite Karriere als Pathologe in den USA aufgebaut hatte, war 1948 zum korrespondierenden Mitglied ernannt worden und hielt 1981 den Festvortrag bei der Jahreshauptversammlung.
Dritte Phase: die 1980er Jahre oder die „Waldheim-Phase“
Karl Hermann Spitzy setzte als Präsident (1982-1991) wieder einige Initiativen in der Aufarbeitung der Geschichte der Gesellschaft, wobei seine Motivation unklar ist. Er beauftragte den Historiker Karl Sablik, Mitarbeiter von Erna Lesky am Institut für Geschichte der Medizin, mit der Fortsetzung der Arbeit von Isidor Fischer und mit der ersten Aufarbeitung der Vereinsgeschichte während der NS-Zeit. Karl Hermann Spitzys medizinische Bedeutung lag vor allem in der Entwicklung des oralen Penicillins und der Förderung moderner medizinischer Didaktik. Im Jahr 1986 wurde erstmals öffentlich der Vorwurf laut, dass Spitzy Mitglied der SS gewesen war. Nach 1986 suchte Spitzy verstärkt Kontakte zu vertriebenen Mitgliedern der GdÄ, „um eine letzte Möglichkeit zu nützen, eine Dankesschuld abzustatten“. Der Erfolg dieser Bemühungen war mit wenigen Ausnahmen begrenzt. Er konnte jedoch Karl Popper zu einem Festvortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung 1986 und im Folgejahr für eine Diskussionsrunde in der Gesellschaft gewinnen. Karl Popper wurde zum Ehrenmitglied ernannt.
Vierte Phase: 1990er – 2010er Jahre
Diese Jahre sind durch punktuelle Erinnerungsveranstaltungen gekennzeichnet. In den Gedenkjahren 1988 und 1998 erschienen Publikationen zur „Geschichte der Wiener Medizin in der NS-Zeit“ in der Wiener klinischen Wochenschrift, dem Vereinsorgan der GdÄ von 1888 – 1996. 2002 organisierte Wilfred Druml, Chefredakteur der Wiener klinischen Wochenschrift, ein Gedenk-Symposion für den 1937 verstorbenen jüdischen Chirurgen Emerich Ullmann.
Fünfte Phase: Gegenwart
2018 wurde die Jahreshauptversammlung, die auf den 13. März (80. Jahrestag des „Anschlusses“) fiel, vom amtierenden Präsidenten der GdÄ Walter Hruby (2015 – 2019) in eine Gedenkveranstaltung umgewandelt. Die Vortragenden waren: Walter Hruby, Zeitzeugin Rosa Kohn und Hermann Zeitlhofer; (https://www.billrothhaus.at/index.php?option=com_vf_veranstaltungskalender&Itemid=144&show_page=0&task=lecture&veID=1320&limitstart=7)
Während der Präsidentschaft von Beatrix Volc-Platzer (2020 – 2024) begann die systematische Aufarbeitung der Geschichte in einem Forschungsprojekt, das in Kooperation mit Herwig Czech vom Institut für Geschichte der Medizin ab 2022 in Angriff genommen wurde (siehe oben). Neben den erwähnten drei Symposien wurde auch eine kleine Ausstellung aus dem Nachlass des jüdischen und 1938 vertriebenen Dozenten der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Karl Moritz Menzel, präsentiert. Geplant ist weiters die Überarbeitung der Gedenktafel im Stiegenhaus und die Erstellung eines „Online Gedenkbuchs“ als Zeichen der Umwandlung in ein permanentes Gedenken der politisch und rassistisch Verfolgten und vertriebenen Mitglieder der Gesellschaft der Ärzte in Wien.
Abb. 3: Karl Moritz Menzel (1873-1944)
Quelle: Josephinum – Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Bildarchiv
Schlussbemerkungen
Die systematische Aufarbeitung unserer Geschichte und die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, dass auch wissenschaftliche Vereine in politischen Umbruchszeiten in keiner Weise vor den Auswirkungen politischer Radikalisierung und massiver Umwälzungen gefeit sind. Dieser Aspekt scheint heute wieder mehr an Aktualität gewonnen zu haben als noch vor einigen Jahren angenommen werden konnte.
Mit unserem Projekt ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Medizin in Wien im 20. Jahrhundert gelungen. Dabei wollen wir nicht stehen bleiben. Die Vorträge im zweiten Teil des Symposiums von 2024 zeigen bereits die Richtung auf, in die es in Zukunft gehen kann. Zeitgeschichtliche Projekte dieser Art haben Auswirkungen auf die sie organisierenden Trägergesellschaften, auch in der Medizin. Dass sich die GdÄ mit ihrer Vergangenheit und deren damaligen Protagonisten auseinandersetzt, ermöglicht erst eine aktive Erinnerungs- und Gedächtniskultur. Das Wissen um die Glanz- wie auch die Schattenseiten bewahrt vor voreiligen historischen Urteilen und trägt wesentlich zur Identitätsstiftung des Vereins bei.Mit jährlichen Symposien wollen wir auch in Zukunft unseren Beitrag zur Vermittlung und Weiterentwicklung dieser Erinnerungs- und Gedächtniskultur beitragen.