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Das aktuelle Interview zum (Geburts)Tag von Univ.-Prof. DDr. Lüder Deecke, Gesellschaft der Ärzte

Wien - Toronto - Wien

Interview mit Univ.-Prof. DDr. Lüder Deecke anlässlich seines 80. Geburtstags

 

Wie sind Sie zum Medizinstudium gekommen?

Nachdem mein Großvater schon meinen Vater beeinflusst hatte Geologie zu studieren, obwohl er lieber Physiker werden wollte, hat mein Vater seinen unerfüllten Berufswunsch auf mich projiziert, sodass ich zunächst ein Semester Physik studierte. Nach meiner Einberufung zur Bundeswehr habe ich jedoch ohne Semesterverlust auf Medizin umgesattelt.

Was hat Sie dazu veranlasst einen Teil Ihres Medizinstudiums in Wien zu absolvieren?

Um ganz ehrlich zu sein: Es galt bei deutschen Medizinstudenten damals als chic, nach dem Physikum das WS in Innsbruck zu machen und das SS dann in Wien (Anm.: s. Studienbuch, rechts)! In Innsbruck haben meine damalige Kommilitonin Gertraud Flinspach (heute meine Frau) und ich nicht studiert, sondern in Hamburg, wo meine Eltern noch lebten, und dann wählten wir Wien. Es war unser schönstes Semester! Ich hätte mir damals niemals träumen lassen, dass ich dereinst einmal als wohlbestallter ordentlicher Professor an unsere liebste Universität zurückkehren würde.

Was hat Sie zur Fachrichtung Neurologie gebracht?

Das entschied sich auch bereits im Studium. Auf einer Famulatur in Heilbronn, dem Wohnort meiner Kommilitonin Gertraud Flinspach, die später meine Frau wurde, auf der dortigen Kinderklinik lernte ich das EEG näher kennen, und war fasziniert, dass man Hirnströme des Gehirns direkt von der Kopfhaut ableiten konnte. Das Wiener Semester war 1963. Wir kehrten dann nach dem Wiener Sommersemester an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Breisgau zurück, und 1964 bemühten wir uns beide (noch während des Studiums) um Doktorarbeiten. Weil ich seit der Famulatur in Heilbronn so am EEG interessiert war, versuchte ich es zielführend an der Neurologischen Klinik mit klinischer Neurophysiologie (Leiter Prof. Richard Jung). An der Pforte saß eine bucklige herzensgute Frau Weiser. Sie fragte mich was ich wollte, und ich sagte ihr eine Doktorarbeit bei Prof. Jung. Sie sagte, Prof. Jung würde im Augenblick keine Doktoranden mehr nehmen, aber sein Oberarzt Dozent Dr. Hans Helmut Kornhuber nehme Doktoranden, das wäre die richtige Adresse für mich. So „geriet“ ich dann schicksalhaft an HH Kornhuber, der mein viel geliebter Mentor werden sollte. Er fragte mich auf welchem Gebiet ich eine Doktorarbeit haben möchte und ich sagte natürlich auf dem Gebiet des EEGs. HHK meinte: Beim EEG könnte man keinen Blumentopf mehr gewinnen, aber die evozierten Potentiale wären hoch im Kurs. Also wurde das ausgemacht. Als erstes erhielt ich gleich den Auftrag, die englische Bedienungsanleitung der Mnemotron CAT Computers, den Jung an seiner Klinik angeschafft hatte, ins Deutsche zu übersetzen. Eines Samstags wusch ich mein Auto (Citroen 2CV) im Garten der Neurophys (so wurde die Jung-sche Klinik „im Volksmund“ genannt). Samstag um 12 kam mein Doktorvater Dozent HH Kornhuber vorbei und sagte: Deeckelein wir gehen essen. Wir gingen in den Gasthof Schwanen am Schlossberg. Was weiter geschah, haben wir beschrieben in den Current contents Clinical Sciences (Anm.: s. Scan, rechts).

Sie waren mehrfach im Ausland an verschiedenen Institutionen, welchen Einfluss hatten die dort gewonnen an Erfahrungen auf Ihren späteren Werdegang?

Der prägendste Auslandsaufenthalt waren eineinhalb Jahre in Toronto/Canada. Ich war dort Research Fellow bei Prof. John M. Fredrickson und habe dort den thalamischen Relaiskern für den Gleichgewichtssinn (Vestibularis) im Rhesusaffen gefunden. Es ist der Nucleus ventrolateralis posterior (n. VPI). Ferner habe ich dort an Experimenteller Querschnittslähmung gearbeitet, auch am Rhesusaffen zusammen mit Prof. Charles Tator. Und schließlich noch an akustisch-evozierten Potentialen (AEP) unter respiratorischem Stress mit Prof. Robert C. Goode und Dr. Gordon Whitehead. Die eineinhalb Jahre in Toronto waren für die ganze junge Familie phantastisch. Unser jüngster Sohn Arved wurde im Toronto Western Hospital geboren. Eine 7-wöchige Zeltreise durch die Vereinigten Staaten, etc.

Sie hatten einen Ruf nach Lübeck, später nach Essen. Was hat Sie dazu veranlasst dann gen Wien zu ziehen?

Der Ruf nach Wien und der nach Lübeck kamen ungefähr gleichzeitig. Es war ein Entweder-Oder. Der Esel musste sich also zwischen 2 Heuhaufen entscheiden(!) Die beiden Heuhaufen waren aber so verschieden groß – Wien „tausendmal“ besser als Lübeck – , dass die Wahl mir wahrlich nicht schwer fiel. Der Ruf nach Essen kam, als ich schon in Wien war. Die Universität Wien und das Bundesministerium für Lehre und Forschung (seinerzeitiger Bundeminister: Dr. Heinz Fischer) zeigten sich erfreut, dass ich nicht nach Essen gegangen bin. Und machte mir ein „Bleibegeschenk“, vom BMWF bekam ich eine Bibliothekspauschale für unsere Klinikbibliothek.
 
Wie war Ihre Beziehung zur Gesellschaft der Ärzte?

Schon nach meiner Antrittsvorlesung im Oktober 1985 gingen wir zu Fuß von der Lazarettgasse 14, vom alten historischen Hörsaal der Neurologischen Klinik, in die Frankgasse 8. Der Winter war sehr früh eingetreten, es hatte schon geschneit und es war Glatteis auf den Straßen. In der wunderschönen Bibliothek des Billrothhauses war dann die Nachfeier mit Getränken und Guster‘l-Häppchen und Brötchen. Die Gesellschaft der Ärzte hat mir von Anfang an atmosphärisch und besonders vom wissenschaftlichen her sehr viel bedeutet. Ich war auch als Vorstand der Neurologie im Programmkomitee der Gesellschaft der Ärzte (Vorsitz Aiginger), und wir haben regelmäßig Freitagabende später Mittwochabende mit Vorträgen unserer Klinik bestritten. Von der Gesellschaft der Ärzte Wien habe ich eine hohe Meinung.

Wie waren dann Ihre Kontakte zur Gesellschaft der Ärzte zu Wien in der Folge?

Ich wurde bald in das akademische Programmkomitee aufgenommen (Vorsitz Aiginger), habe regelmäßig an den Sitzungen und Vortragsplanungen teilgenommen und auch zahlreiche Vortragsabende aus meiner Klinik mind. zweimal jährlich regelmäßig veranstaltet. Darüber hinaus habe ich auch Kongresse in der Gesellschaft der Ärzte veranstaltet. Meine „alten“ Mitarbeiter Prof. Christoph Baumgartner und Prof. Wilfried Lang (den ich von Ulm mit nach Wien gebracht habe [wie z.B. auch Dr. Frank Uhl]) richten mir am 28. September einen „Kongress zum 80. Geburtstag von Prof. Deecke“ aus. Internationale Vortragende inklusive Australien. Darauf freue ich mich bereits sehr. Die ehrwürdige Gesellschaft der Ärzte zu Wien steht bei mir ganz hoch im Kurs.

Sie waren ja in der klinischen Neurologie sehr vielseitig wissenschaftlich tätig (> 600 Wiss. Arbeiten). Welches Gebiet ragt nach Ihrer Meinung da besonders heraus?
Das Besondere an meiner Forschung war sicher die Entdeckung des sogenannten Bereitschaftspotentials (BP) zusammen mit meinem Mentor und Doktorvater Hans Helmut Kornhuber (1928-2009). Entdeckung 1964 an der Neurologischen Klinik mit Klinischer Neurophysiologie Prof. Richard Jung in Freiburg Breisgau. Das Full Paper erschien 1965 im 1. Heft (Januarheft) von Pflügers Archiv. Wir hatten ein Hirnpotential gefunden ableitbar im Elektroenzephalogramm, EEG, des Menschen, das allen unseren Willkürbewegungen, d.h. mit unserem (freien) Willen gewollten Bewegungen und Handlungen vorausgeht. In der englischen Summary des 1965 Full Papers in Pflügers Archiv haben wir die englische Übersetzung readiness potential bereits angeboten. Trotzdem wurde auch im Englischen das Wort Bereitschaftspotential – dieser Zungenbrecher für anglo-amerikanische Sprachwerkzeuge – vorgezogen und „unser“ Bereitschaftspotential findet sich in der Liste „German Words in the English language“ wie Rucksack oder Kindergarten. Ich habe das Bereitschaftspotential, BP, nicht nur im EEG gefunden sondern auch im Magnetoenzephalogramm, MEG, das wir auch in meiner aktiven Zeit in Wien an der Klinik installiert haben. Ich hatte auch einen Sponsor für ein hochmodernes Folge-MEG gefunden, der für unsere Universitätsklinik 1,6 Mio. Euro lockergemacht hatte. Das AKH unter Reinhold Krepler hat das Geld postwendend wieder zurücküberwiesen. Ich versuchte es daraufhin mit der MedUni Wien unter Wolfgang Schütz, der die 1,6 Mio. Euro ebenfalls ausschlug. In anderen Universitäten werden Forschungsgelder mit großer Freude angenommen, in Wien offenbar nicht!
Auch in der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie, fMRT, kann man das Äquivalent des BPs ableiten, und wir haben das mit Hilfe unseres langjährigen australischen Gastwissenschaftlers Dr. Ross Cunnington geschafft – eine Pioniertat(!) – der das fMRT ereigniskorreliert eingesetzt hat. Wir haben es Bereitschafts-BOLD-Effekt genannt. Das heißt, dass sich im fMRT die Charakteristiken des Bereitschaftspotentials widerspiegeln, wenn man Willkürbewegungen und -handlungen untersucht, allerdings zeitlich Träger und verspätet. Bereits im MEG kann man die Quellen des BPs viel besser lokalisieren als im EEG, und den Bereitschafts-BOLD-Effekt kann man ebenfalls sehr gut lokalisieren. Der frühe Generator des Bereitschaftspotentials, BP1, ist die supplementäre motorische Area, SMA. Der späte Generator des Bereitschaftspotentials, BP2, ist der primäre motorische Cortex. Insgesamt haben wir das Bereitschaftspotential vor den verschiedensten Bewegungen und Handlungen abgeleitet: Hand- und Fingerbewegungen, Fuß- und Zehenbewegungen, Schulterbewegungen und Hüftbewegungen, etc. auch vor dem Schlucken haben wir es untersucht. Vor Augenbewegungen natürlich auch und vor dem Sprechen. Der neueste Schrei ist, dass es uns gelungen ist, das Bereitschaftspotential vor dem Bungee-Springen abzuleiten. Und zwar an der Europabrücke bei Innsbruck mit 192 Metern Sprungtiefe. Neurophysiologisch betrachtet, ist das BP die Summation der kumulierenden exzitatorischen postsynaptischen Potentiale (EPSPs) minus den Inhibitorischen postsynaptischen Potentialen (IPSPs). Es ist elektrisch negativ, was Aktivität des entsprechenden Hirnareals bedeutet.
2014 wurde das 50-jährige „Jubiläum“ des Bereitschaftspotentials auf einem Kongress gefeiert. Und ich fasste die wissenschaftlichen Fakten über das BP in einem langen Artikel in World Neurology zusammen.


(Foto: Photographie / Bildgebung AKH / MedUniWien Reprographic)






(Fotos/Scans: privat)


(v.l. Prof. Philipp Hübl; Prof. Lüder Deecke und Andreas Bönte in der BR-Sendung nacht:sicht; Foto: BR)









Prof. Lüder Deecke (geb. 22. Juni 1938) war von 1986 bis 1991 Mitglied des Verwaltungsrates der Gesellschaft der Ärzte in Wien.

[[Deecke L, Goode RC, Whitehead G: Effect of altered respiration on the auditory evoked potential in man. In: DesmedT JE. (Ed): Auditory evoked potentials in man. Psychopharmaco¬logy correlates of EPs. Prog Clin Neurophysiol Vol 2, pp 119-129 (1977)]]

1982: Distinguished Visiting Professor on Invitation of the Government of British Columbia, working on Magnetoencephalography at the Brain and Behaviour Laboratory (Head Prof. Harold Weinberg), Simon Fraser University, Vancouver, BC, Canada,.8 Monate.
1991: Distinguished Visiting Professor University of California, Irvine, Department of Neurology. (Head: Prof. Dr. Arnold Starr.
2003: Dr. honoris causa Simon Fraser University Vancouver